Hydrodynamik der Benetzung

Im Kleinen wird die freie Oberfläche einer fließenden Flüssigkeit vor allen Dingen durch die Oberflächenspannung und durch viskose Scherkräfte bestimmt. Der Wettbewerb dieser beiden Kräfte spitzt sich dabei insbesondere in der Nähe der Kontaktlinie dramatisch zu. Die Kontaktlinie ist der Ort, an dem die freie Oberfläche einen Festkörper trifft, zum Beispiel am Rand eines Tropfens an einer Scheibe. Hier divergieren Kapillar- und Scherkräfte theoretisch sogar gegen unendlich, praktisch werden sie jedenfalls so groß dass allein das Kräftegleichgewicht in der unmittelbaren Umgebung der Kontaktlinie die Dynamik der gesamten Flüssigkeit bestimmt. Die zwei folgenden Experimente verdeutlichen dies besonders gut:
Tropfen auf einer geneigten Ebene verändern ihre
Form, spitzen sich hinten zu und lassen bei hoher Geschwindigkeit
kleine Tropfen zurück. Diese Übergänge werden sämtlich durch die
Kräfte nahe der Kontaktlinie bestimmt. Wussten Sie, dass
Regentropfen – im freien Fall, mithin ohne Kontakt mit Festkörpern
– niemals die Tränen- oder Birnenform haben, mit der wir sie so
gerne zeichnen ? Regentropfen sind immer rund, nur an festen
Oberflächen sehen Tropfen unter Umständen so aus wie hier
abgebildet. Überraschenderweise verrät uns die Form solcher
Tropfen, in welcher (mikroscopischen) Umgebung der Kontaktlinie die
klassische Hydrodynamik versagt.
Ein Rinnsal Wasser schlängelt sich eine Schräge
hinunter, anstatt geradlinig den steilsten Weg
einzuschlagen (wie es ein einzelner Tropfen im wesentlichen macht).
Welcher Mechanismus verursacht diese Serpentinen, wo doch in Bezug
auf Schwerkraft, Trägheit und Oberflächenspannung der gerade Weg
nach unten optimal und stabil zu sein scheint ? Die Antwort liegt in
der Präsenz des Substrats, und mit ihm der Kontaktlinien beidseitig
des Rinnsals. Paradoxerweise bewirkt nämlich die dort erhöhte
Reibung bei seitlicher Bewegung des Rinnsals dessen Instabilität.
Einen Vergleich, der zwar etwas hinkt aber im Kern den Sachverhalt
trifft liefert das Auto, das nur um die Kurve kommt (und sich im
Extremfall überschlägt) weil die Reifen auf der Straße haften. So
drehen sich die Räder leichter vorwärts als dass sie seitlich
rutschen.

Die Kontaktlinie ist auch noch in manch anderer Beziehung ein singulärer Ort:
Bei der Verdunstung eines Lösungsmittels steigt die Konzentration der
nicht flüchtigen Komponente in der Nähe der Kontaktlinie fast
beliebig schnell an. Dadurch fällt sie dort rasch aus und verankert
die Kontaktlinie. Bei der Benetzung der Oberfläche kommt es
dadurch unter Umständen zu dynamischen Instabilitäten und
ruckartiger Ausbreitung.
Die elastische Verformung eines weichen Substrats durch die
Oberflächenspannung eines Tropfens auf seiner Oberfläche ist
ebenfalls in der Nähe der Kontaktlinie singulär. Dadurch werden
weiche Stoffe anders benetzt als harte.
Auch der Wärmefluss ist in der Nähe der Kontaktlinie
besonders stark, so dass es dort auf einem kalten Substrat am
frühesten zu Phasenübergängen kommt. Wie diese mit der Ausbreitung
des benetzenden Meniskus wechselwirken versuchen wir besser zu
verstehen, um das Vereisen der Tragflächen eines Flugzeugs in
nasskalter Witterung verzögern oder sogar vermeiden zu können.
Benetzungsphänomene dieser Art begegnen uns im Alltag häufig (Regen an einer Scheibe, Fließen und trocknen von Wandfarben, …), aber auch in vielen industriellen Fertigungsprozessen (Druck, Auftragen von Schutzschichten, Ummantelung von Pillen in der Arzneimittelindustrie, …). Hier sind sie manchmal erwünscht, manchmal eben nicht, in beiden Fällen ist ein besseres Verständnis hilfreich. Bei aller praktischer Bedeutung ist es jedenfalls überraschend, dass ein bischen Wasser auf einer Oberfläche im 21. Jahrhundert noch so viele Fragen aufwirft.
Last modified: 18 Jul 2020